Was ist Digitale Anthropologie? Die philosophische Sicht

OVEaktuell – Gesellschaft für Informations- und Kommunikationstechnik (GIT) Scherwpunkt „Homo Digitalis“, Newsletter 7.11.2018

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Digital ist nicht analog, und Anthropologie ist nicht Humanismus. Betrachten wir das letzte Wortpaar, dann sehen wir Menschen. Anthropologie ist die Lehre vom Menschen, schlicht Philosophie, denn nichts anderes ist die Philosophie immer gewesen. In den weit gereisten Kinderschuhen erwuchs sie seit der Antike zur Universalwissenschaft. Der Mensch war ihr Gegenstand der Naturforschung, der Heilkunst, der metaphysischen Spekulation, des logischen Kalküls, der politischen Ordnung, des sittlichen Miteinanders, des guten Lebens und des hoffnungsvollen Glaubens. Wurde an etwas gezweifelt, dann immer auch am Menschen. So stellten sowohl die akademische als auch die pyrrhonische Skepsis schon das antike Erkenntnisvermögen auf eine Probe und streuten im Endeffekt Salz in die epistemische Wunde der Endlichkeit menschlichen Wissens sowie der Begrenztheit und Verletzlichkeit der gesamten humanen Lebensform. Nicht nur unser Wissen, sondern auch wir selbst sind endlich, verletzlich und stark durch das stete Abarbeiten an den Grenzen unserer technischen und sozialen Macht. Wurde dialogisch korrespondiert, dann zwischen Menschen oder ihren anthropomorphen – menschenähnlichen – Göttern. Denken wir etwa an Platons literarische Verewigung des Sokrates als stilisierten Gesprächspartner. Und es war dann auch nicht zuletzt Immanuel Kant, der die Frage „Was ist der Mensch?“ als die Grundfrage seines Fachs auswies.

Und da haben wir schon den Salat: „seines Fachs“. Der Mensch Kant gilt nach Leibniz und anderen als einer der letzten Universalgelehrten. Er hatte kein „Fach“, keine „Disziplin“, keine Schublade. Fachübergreifend liefen die Fäden der Anthropologie seit zweieinhalb Jahrtausenden zusammen in einem ganzheitlichen Menschenbild zwischen dem, was sich heute nur mit anmaßender Brutalität als Biologie, Theologie, Medizin oder Psychologie historisch sezieren lässt. Anmaßend und brutal ist der Schnitt, weil er die zersprungene Weltordnung kaleidoskopischer Glitzersteinchen im akademischen Gemäuer unserer Zeit für bare Münze hält. Wir leben in einer Welt ohne Universalgelehrte. Schon das Wort wirkt angestaubt freakig. Aber das berechtigt uns nicht, mit der reichen Vergangenheit philosophischen Denkens so umzugehen, als ob sie ähnlich fragmentiert gewesen wäre. Im Gegenteil, sie vermittelt uns die eigentlich philosophische Sicht auf digitale Anthropologie: den Menschen umfassend und unberechenbar als Menschen sehen, nicht als Blutdruck und Cholesterinwert, nicht als Arbeitnehmer und Sozialversicherungsnummer, nicht als Bürger und verantwortliches Individuum, nicht als soziales Kulturwesen, Forscher, Dichter, Denker, Künstler, Dummkopf, Vernunftverweigerer, Sittenstrolch und Blüte wie Supergau der Evolution, nicht als DNA und Molekül und was uns sonst noch einfällt.

Digitale Anthropologie lässt sich philosophisch nur vom Standpunkt zwischen den Stühlen aus anvisieren. Wir sehen den Menschen in all seinen Facetten verbunden, als Strolch und Engel, als Harlekin und Prima Ballerina, als einen Haufen Kohlenstoff und einen Berg voll Emotionen, als vernünftig und naiv zugleich. Neuerdings wird von philosophischer Anthropologie gesprochen, um Denker wie Scheler, Plessner oder Gehlen zu titulieren. Aber das ist schon die analoge Dekadenz in der Trübsal zersplitterter Digitalisierung. Wir brauchen noch nicht einmal Computer, um den Menschen aus den Augen zu verlieren. Es reicht hierzu schlicht Spezialisierung und analoges Schubladendesign. Wir brauchen keine 1 und 0. Es reichen getrennte Deutungshoheiten über den rechten und linken Arm. Schon Aristoteles wusste, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Arbeitsteilig lässt sich der Mensch bearbeiten, aber lässt er sich bloß teilnehmend erkennen? Nimmt sich jeder vom Kuchen, was er methodisch gerade braucht, dann haben wir wunderbare Disziplinierung. Das alleine reicht aber nicht. Der Mensch ist unausweichlich veränderlich, rinnt durch die Hände des analysierenden Geistes und bleibt nicht feststellbar. „Der Mensch“ ist das Konzept eines Schattenrisses, um dessen malerische Güte sich nur ringen lässt. Technik ist menschlich, und es ist menschlich technisch zu sein – analog und digital. Jedoch braucht es den gleichen Sprung ins Nicht-Berechenbare, um Technik zu begreifen, wie auch das, was wir Mensch nennen dürfen. Hier steht das Analoge dem Digitalen seltsam verbunden.

Wie im Schachspiel der Mut zur Lücke, so führt der philosophische Blick auf den Menschen durch die Haltlosigkeit des uneindeutig nicht disziplinär Gebügelten. Ein Hoch auf die deutsche Sprache, denn sie schenkt uns die andere Bedeutung des Wortes Disziplin: (akademische) Disziplinlosigkeit lässt sich nur mit (eiserner) Disziplin tragen. Und hier haben wir dann auch schon das Analoge im Digitalen anthropologisch ergriffen. Es bleibt der sich selbst problematisierende Mensch, nicht der verkürzte Klischee-Bildungsbürger humanistischer Idealismen, sondern der eigentümlich selbstbezogene Analogismus, der sich nun auch schon digital selbst zu ermächtigen in Stande gesetzt sieht. Man muss das aushalten können. Die Komfortzone der Mini-Sub-Spezial-Spezialisierung verlangt nicht wirklich Disziplin. Sie birgt den Schutz gespaltener Institutionalität, und gespalten ist im wahren Leben auch so mancher Mensch tatsächlich. Nur lässt sich dem zumindest philosophisch nicht auf dem Stuhl ruhend begegnen. Die Anspitzung des jeweiligen Gegenteils, insbesondere die Überdrehung des Humanismus in einen wie auch immer gearteten Post- oder Transhumanismus, scheidet als Erklärung aus. Digitale Anthropologie bleibt aus philosophischer Sicht ein methodisches Konzept, nicht die religiöse Vision eines Maschinenmenschen oder Gehirn-Uploads in die platonische Cloud am von Engeln befreiten Firmament modisch schicker Mikrosternschnüppchen. Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Standpunktes zwischen den Stühlen zu bedienen!

Michael Funk, BA, MA und Univ.-Prof. Mark Coeckelbergh, PhD.
Forschungsgruppe Medien- und Technikphilosophie
Universität Wien