Stell dir vor es ist Salon und alle gehen hin…

OVEaktuell – Schwerpunkt Informationstechnik – „Homo Digitalis“, Juni 2020

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Die Zahl Zehn kann wie einige unmittelbare Kolleginnen und Kollegen mythologischen Tiefgang ihr eigen nennen. Man wird wohl heutzutage nicht umhinkommen, dabei auf die seltsame Verschränkung von 1 und 0 zu verweisen, eine Verschränkung, deren astrologische Reichweite von den harten Materialist/innen ihrer Zunft gerne übergangen wird. Aber immerhin, Strom frei! – Es dominiert der Wille zur 1. Das kennen wir auch aus der Schule, wohl wissend, dass damit nichts über Menschen gesagt ist. Wer online auf Zahlenjagd geht, wird bei den „Technischen Grundlagen der Informatik“ fündig, wo ein unbedingter Reflex fachkundige Menschen zur zwanghaft eingeimpften Übertragung des Binärcodes 00000010 in Dezimal 2 führt. Wer die dezimale Zehn will, der muss dual zu 00001010 voranschreiten. Heute sind es Ketten wie diese, in welchen wir ganze Welten sehen, Abbilder unseres Kosmos oder zumindest sich stetig optimierende Modelle mit gesteigert-korrekten Prognosewahrscheinlichkeiten. Fallen wir zurück in die Zahlenmagie, dann landen wir bei den alten Pythagoreern. Deren Schulgründer stand nicht nur Pate für die Nomenklatur des gleichnamigen Satzes zur Navigation im rechtwinkligen Dreieck; nein, er war es auch, der – wahrscheinlich angeregt von nordindischer und ägyptischer Mathematik – in harmonischen Zahlenverhältnissen die Ordnung des ganzen Kosmos erblickte. Wie könnte es anders sein, heraus ragte die Zehn. Das mag nicht verwundern, schließlich begreifen wir aus irgendeinem naturhistorischen Grund unsere Welt ausgerechnet mit zehn Fingern, und die Pentatonik ist eine fünftönige Reihe, die sich in diversen Varianten musikalisch um den Globus gewickelt hat. Logisch, fünf Finger, fünf Töne, so lassen sich Flöten oder Saiteninstrumente gut bedienen. Pythagoras legte darum noch einen drauf und sprach von Sphärenharmonien, wo er mit kosmologischen Hintergedanken auch Töne in ganzzahligen Verhältnissen ordnete.

Man stelle sich einmal diesen gedanklichen Schritt vor über 2000 Jahren vor – die Welt bestehend aus Verhältnissen ganzer Zahlen – und die aktuell praktizierte Auflösung derselben in binäre Maschinensprachen Künstlicher Intelligenz. Es sind der alte Platon mit seiner Welt der reinen Ideen sowie Gottfried Wilhelm Leibniz, auf den die Entdeckung des Binärcodes zurück reicht, welche nur stellvertretend für die vielen Pioniere heutiger Computertechnik stehen können. Die Welt rational erkennen und dann in Zahlen abbilden und sogar verändern – im 20. Jahrhundert wird kein Geringerer als Karl Raimund Popper diesen Strang aufgreifen und mit seinem Konzept der Falsifizierbarkeit angereichert katalysieren. Es ist die Zeit um 1950. Alan Turing veröffentlicht seinen legendären Aufsatz „Computing Machinery and Intelligence“, und zwischen „kritischem Rationalismus“ und „logischem Empirismus“ gären diverse Logiken hinter dem Vorhang einer wieder befriedeten Weltbühne. Nicht ohne Stolz wird man sagen können, dass vieles seinen Ausgang in Berliner, Prager und vor allem Wiener Kreisen der 1920er- und 1930er-Jahre nahm, bis zum jähen Ende 1933. Spekulative Zungen behaupten ja, der anno 2019 ans Licht der Öffentlichkeit getretene neue „Wiener Kreis zur Digitalphilosophischen Anthropologie“ hätte sich genau aus diesem Grund ausgerechnet für sein Jubiläum des zehnten Treffens das Thema „Superintelligenz“ reserviert. Das Branding scheint jedenfalls zu laufen, das Narrativ sitzt und es bleibt kein Auge trocken! Na gut, Rotwein, Käseplatte inklusive Trauben sowie grenzgeniale Premium-Handcrafted-Musik tun da wohl ihr Übriges – man vergesse übrigens nicht die obszön-stilvoll-überzogen-enthemmt-selbstironischen 1920er-Jahre-Salon-Allüren. Stimmt, in den 2020ern sind wir ja auch schon angekommen… Sport frei, auf ins legendäre Jahrzehnt, retro ist Fortschritt, wir brauchen alle Vorbilder!

Also: Das Jubiläumstreffen am 10. März 2020 wurde mitgestaltet von unseren Gästen Isabell Kunst und Konstantin Oppl. Beide forschen an einer „Superintelligenz“ (http://xephor-solutions.com) und haben sich gewappnet mit Vision, Geist, Verstand und einer gescheiten Brise Skepsis in den kritisch angeschärften Ring geworfen. Da zwischen transhumanem Delirium und „Seht mal alle her, die Superintelligenz bin ich!“-Selbstdarstellerei mannigfaltiges Schindluder um das hippe Thema rotiert, hat das Publikum den tapferen Gästen besonders pompös auf den Zahn gefühlt. Wie sich schnell zeigte, ging es auch hierbei um Vorbilder, namentlich den bereits erwähnten großen Wissenschaftstheoretiker Popper, dessen Werk „Logik der Forschung“ als Grundlage für die KI der beiden Wiener Pioniere dient. Denn deren KI stellt Hypothesen auf und versucht diese zu falsifizieren, um ihr Modell der Umwelt zu optimieren. Dabei entpuppt sich vor allem Oppl als profunder Popperianer, was den Philosoph/innen natürlich das Herz aufgehen lässt – Heureka, wir haben Einfluss auf die Welt!

Den letzten Satz können wir gar nicht groß genug schreiben, um zu erfassen, was wir in dieser Hinsicht dem Vorbild Alan Turing zu verdanken haben. In Gestalt der ausgezeichneten und als Filmvorlage verbratenen Biographie von Andrew Hodges„Alan Turing – The Enigma“ haben wir den Informatiker zunächst eingekreist. Dabei fiel auf, dass das seitenstarke Werk aus dem Jahr 1983 mehr ist als nur eine Turing-Bibel. Es liefert diverse Infos und Sidestories zu Zeitgenossen, Popper inklusive, und offenbart überquellende Einblicke in die große Zeit der Pioniere starker KI. Es ist bezeichnend, dass Hodges Werk Mitte der 1980er-Jahre erscheint, kurz nachdem John Searle in einem bekannten Aufsatz mit seiner Chinese Room-Variante des Turing-Tests den Winter starker KI beschneit – und kurz bevor John Haugeland 1985 den Ausdruck GOFAI („Good Old Fashioned AI“) nicht unnostalgisch-wohlwollend prägen wird. Und in der Tat, es sind Momente der Ernüchterung, welche den teils astronomischen Erwartungen der KI-Pioniere seit 1950 folgten. Auf der anderen Seite beschleunigt sich ab den 1980ern eine Entwicklung, die wir heute mit Künstlichen Neuronalen Netzwerken und selbstlernenden Algorithmen assoziieren. Im Sog neuer Hardware und Metadatenmassen inszeniert sich Nick Bostrom 2013 mit einem Marketingbuch unter eben jenem Label der „Superintelligence“. Der Autor fasst Bekanntes zusammen, erörtert im Konjunktiv, wie Superintelligenz entstehen könnte und wiederholt Visionen der frühen Pioniere um Alan Turing. Auch KI trägt Anzüge einer Boutique, sie geht mit der Mode und gestaltet ihren medialen Chique in auf- und absteigenden Wellen. Aktuell hat sie Surf-Niveau erreicht. Darum ist die Auseinandersetzung mit KI selbst zu einem Gegenstand rationaler Kritik geworden.

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Wer sich mit Tonleitern auskennt, weiß, dass sich das postpythagoreisch-diatonische System europäischer Harmonielehre in acht Tonschritten offenbart. Da wird in diversen Modi von der Tonika bis zur Oktave zirkuliert. Wir nehmen darum an, dass es auch kein Wunder ist, sondern sich streng dem Dienst der Zahlenmystik unterwirft, wenn ausgerechnet das achte Treffen am 11. Dezember 2019 nicht nur das erste Weihnachtsfest von „Homo Digitalis“ einläutet, sondern sich dem Komplementärthema der Robotik zuwendet. Da wir uns weder mit der Robotik- noch mit der KI-Gemeinde ernsthaft anlegen wollen, sei noch einmal ausdrücklich betont: KI und Roboter sind nicht das Gleiche! Getragen von Astrid Weiss und Kay Kender – beide von der TU Wien zu Gast – kamen zwei aktuelle Werke von Illah Reza Nourbakhsh und Jennifer Robertson zur Sprache. Schnell zeigt sich einmal mehr die Rolle von Vorbildern. Weiss stellt die fünf Entwicklungsszenarien zukünftiger Robotik vor, nicht ohne ihre forschungstreibende Begeisterung für Nourbakhshs „Robot Futures“ immer wieder durchblicken zu lassen. Man hat den Eindruck, wer das rechte Buch in Händen hält, erlebt nicht nur im Dezember sein Weihnachtsfest. Sodann entführt der zweite Part des Tandems, Kay Kender, in die sozialen Welten Japans. Vom Familien- über das Arbeitsleben begegnet einem eine ganz eigene Welt, die aus europäischer Sicht unvertraut wirken mag. Diese wird geschildert von Jennifer Robertson in ihrem Werk „Robo sapiens japanicus: Robots, Gender, Family, and the Japanese Nation“. Was Nourbakhsh als generelle Optionen zukünftiger Robotik vorstellt – nicht alle haben ein Happy End – tritt in Dialog mit Robertsons intimen Einblicken des japanischen Kulturkreises. Denn auch hier eröffnen sich diverse Optionen zukünftiger Robotik, deren Folgen für das soziale Miteinander jetzt schon durch Prozesse einer Robotisierung der Gesellschaft vorbereitet werden. Im urigen Schimmern des Wiener Salons irgendwo zwischen den 2010er- und 2020er-Jahren, nebst Käseplatte und dezent weinselig – jeder definiere „dezent“ pegelkonform – bleibt eines nicht aus: Roboter werden kulturell gestaltet, gestalten Kulturen und müssen sich in kulturellen Zusammenhängen bewähren. Es liegt an uns, diese kulturellenZusammenhänge – wie Grenzgänger Frauenberger gerne betont – „aus der Informatik heraus“ im Dienst der Menschen und wie Hofstetter‘schen Lehm (Details dazu folgen) zu formen.

Unterbrochen wird die Mischung aus Faszination und Sorge zwischen Orient und Okzident von einem vorweihnachtlichen Ritt durch zwei Epochen der Technikgeschichte in Spielzeuggestalt. Natürlich musste hierzu ein aktueller Roboterbausatz ran. Es kam ein kosmologisches Produkt zur Anwendung, bei welchem mittels eines mechanischen Kodierungsrades kleine digitale Programme haptisch gebastelt werden können. Wer, wie der Autor, den sozialistisch-unfiltrierten Osten Deutschlands noch kennt, riecht den Staub der Tagebauten. Braunkohleförderbrücken, wie sie in der Lausitz heute noch zum Einsatz kommen, gehören zu den größten technischen Dingen, welche die Menschheit hervorgebracht hat. Insofern stehen sie für ein Zeitalter industrieller Großtechnik und massenhaft-standardisierter Prozessabläufe. In besagtem sozialistischem Realexperiment wurde die Nähe zum marktwirtschaftlichen Sozialismus der skandinavischen Staaten vor allem durch Sympathien in Richtung Dänemark ausgedrückt – was für ein Glück, dass dieses Land beiderseits des „Antifaschistischen Schutzwalls“ seine Längengrade reklamiert. Man kann sich die Freude des „Hausossis“ vorstellen, als ein hier namentlich nicht wiedergegebener dänischer Marktführer in der Klemmbausteinindustrie auch tatsächlich ein Tagebauförderbrückenmodell zur kapitalistischen Verfügung in den Markt gebaggert hat. Auch die großen Kinder spielen gerne, was wohl die Totenstille und gebannten Blicke aller Beteiligten bei Aktivierung der Förderbänder erklärt: „Ja, ist denn heute schon Weihnachten?“ – Nein: Es ist Salon und alle gehen hin!

Univ.-Ass. Michael Funk, BA MA / Lehrstuhl für Medien- und Technikphilosophie / Institut für Philosophie / Universität Wien